Dornröschen

(Dieser Artikel wurde in der Ausgabe 46 (pdf) des Schlangengesangs veröffentlicht)

Es war einmal ein Königreich, dort lebten alle Menschen glücklich und zufrieden. Alle trugen ihren Teil zum Leben in der Gemeinschaft bei: Indem sie Felder bestellten, Schafe hüteten, einander beim Hausbau halfen - so wie sie alles zusammen machten. Es war von allem immer genug für alle da. Mangel gab es nicht, da es auch kein Geld und keinen Handel gab. Sie haben immer geteilt.

Es gab in diesem Königreich einen Rat von dreizehn Frauen, die die Geschichten des Volkes bewahrten. Sie waren die Hüterinnen des Wissens. Die Geschichten eines Volkes müssen lebendig weitererzählt werden, gleich ob es sich dabei Pflanzenkunde, Heilkunde, Kanalbau oder Mythologie handelte. Nur was immer wieder neu erzählt wurde, konnte aktuell bleiben und sich so be-wahr-heiten. Um dies zu gewährleisten, waren die Hüterinnen des Wissens da.

Das Königspaar regierte gemeinsam über das Volk, jeder hatte seinen Zuständigkeitsbereich, wobei es hauptsächlich um praktische Dinge gibt. Organisation der Ernte und deren fachgerechte Weiterverarbeitung zum Beispiel. Oder die Märchenstunde für die Kinder - das sind jene Geschichten des Volkes, die den Kindern helfen sollen, das Gesamtgefüge des Volkes, der sie umgebenden Natur und die Wertevorstellungen der Gemeinschaft zu begreifen.

Es begab sich aber, dass Fremde in das Königreich eindrangen. Das Volk empfing die Fremden freundlich - etwas Neues kennenzulernen ist schließlich immer eine Bereicherung. Doch die Fremden brachten nicht nur zweifelhafte Geschenke mit, sondern auch eine Menge fremdartiger Ideen, die so gar nicht in das Leben des Volkes passten. Sie waren ebenfalls begabte Geschichten-Erzähler, und weil dem Volk alles, von dem die Fremden erzählten, völlig unbekannt war, konnten sie noch nicht einmal Fragen stellen, um richtig zu verstehen. So haben die Fremden das gutgläubige Volk überrumpelt und ihnen ihre Lebensweise aufgedrängt: Zuerst kam der Handel, dann das Geld - die Gier kam schließlich ganz von selber über die Menschen des Königreiches.

Das Königspaar hatte eine Tochter, die in das Alter gekommen war, sich einen Partner zu suchen. Eigentlich war das ihre alleinige Aufgabe, doch auch der König blieb nicht von der Gier verschont. Deshalb befahl er die Hochzeit zwischen dem Sohn des Haupt-Mannes der Fremden und seiner Tochter. Er versprach sich davon noch mehr Macht und noch mehr Reichtum. Naja, der Fremde hatte es ihm zumindest versprochen.

Die Tochter hatte das Glück, den Großteil ihrer Kindheit unter der Obhut der Hüterinnen des Wissens verbracht zu haben. Und so hat sie viel mehr der Geschichten des Volkes verinnerlicht als andere in ihrem Alter. Sie besaß einen wachen, klaren Geist und eine gute Portion Mut. Also begab sie sich zu den Hüterinnen, um mit ihnen einen Rettungsplan auszuarbeiten.

Die Gemeinschaft, die es früher gegeben hat, war inzwischen sehr gebröckelt. Zu den Jahresfesten wurde nicht mehr so viel gefeiert wie früher und das Lachen auf dem Marktplatz hörte man immer seltener. Stattdessen gab es Streit und Missgunst. Den Hüterinnen und der Prinzessin war klar, dass schnell gehandelt und drastische Maßnahmen ergriffen werden mussten, wollte man den Rest noch retten - vor allem auch die Geschichten, das Wissen des Volkes.

So sprachen sie einen Zauber aus, der sich auf die Menschen, die Tiere und Pflanzen, das gesamte Königreich erstreckte: Alles fiel augenblicklich in einen tiefen Schlaf und die Grenzen des Reiches wurden von einer riesigen Dornenhecke überwuchert. Je mehr die Hecke wuchs, umso mehr schrumpfte das Königreich darin, so dass am Ende von außen nur ein sehr großes Dornengestrüpp sichtbar war und niemand auf die Idee kam, dass sich dort ein ganzes Königreich verbirgt.

Der Zauber sollte nur so lange andauern, bis ein Prinz sich auf die Suche nach der Prinzessin und den Geschichten des Volkes machen würde. Und er war stark genug, dass nichts und niemand dem Dornengestrüpp etwas anhaben konnte. Nur wer das Herz am rechten Fleck hatte, würde das Geheimnis durchdringen.

So vergingen Jahrzehnte und Jahrhunderte, bis sich ein junger Mann in die Gegend verirrte. Er war auf der Flucht vor seinem Vater, vor dem Leben, das er ihm auferlegen wollte. Es war doch sein Leben - warum konnte er darüber nicht selber bestimmen? Er wollte nicht immer noch mehrmehrmehr wie sein Vater. Ihm war es wichtiger, dass die Angestellten des Konzerns ein gutes Leben führen konnten. Weil sie anständig für ihre Arbeit bezahlt wurden. Als sein Vater ihm eröffnet hatte, dass eine Fabrik in ein anderes Land “verlegt” werden sollte, weil er dort die Menschen noch schlechter bezahlen konnte als hier, ist der junge Mann geflüchtet.

Er war Tage und Wochen unterwegs und je länger er es war, umso leichter wurde sein Gepäck. Er wollte nicht erreichbar sein; den Lärm der Stadt konnte er nicht mehr ertragen und er lief und lief, bis die Geräusche endlich leiser wurden. Währenddessen hatte er Gelegenheit, sich seine eigenen Gedanken zu machen. Wie stellte er sich seine Zukunft vor? Eine zukunftsfähige Gemeinschaft? Ganz sicher nicht mit Ellenbogen, wie sein Vater. Er sehnte sich nach offenen Armen, die ihn mit seinen “versponnenen Ideen” - wie sein Vater es verächtlich nannte - empfangen würden.

Je mehr seine Vision Gestalt annahm, umso lauter schien ihn etwas zu rufen. Er hatte keine Ahnung, wo er gerade war, noch, in welche Richtung er sich bewegte. Er wusste nur, dass es die richtige war. Dass er diesen Weg gehen musste. Bis er von weitem eine Art Dornengestrüpp erkennen konnte. Es zog ihn förmlich dort hin. Doch je näher er kam, desto grüner, üppiger wurde die Hecke. Und sie war über und über mit Blüten besetzt. Als er endlich direkt davor stand, tat sie sich ganz von selber auf und er trat hindurch.

Auf der anderen Seite wurde er von mehreren Frauen erwartet. Es waren die Hüterinnen des Wissens und die Prinzessin. Sie machten am Marktplatz ein Feuer, zauberten von irgendwo her etwas zu essen und begannen, die Geschichten des Volkes zu erzählen. Und je mehr sie erzählten, umso mehr erwachte das Volk aus seinem Winterschlaf. Ganz allmählich, so dass sich alle in Ruhe wieder einfinden konnten. Der junge Mann weinte vor Glück, weil seine “versponnenen Ideen” hier ganz selbstverständlich die Basis des gemeinschaftlichen Lebens darstellten. Als er fragte, ob er hierbleiben könnte, da er gerne Teil dieser wundervollen Gemeinschaft sein wollte, meinte die Königstochter: Gerne, einen Partner wie dich hätte ich sehr gerne an meiner Seite.

Das neue junge Königspaar hatte die Gelegenheit, mit dem Volk zusammen einen echten Neustart ihrer Lebensweise zu vollziehen. Die Hüterinnen hatten das Wissen bestens bewahrt und es wurde wieder erzählt und neu-erzählt. Damit das Wissen weiterhin aktuell und lebendig bleiben würde.

Natürlich kamen hin und wieder Fremde vorbei, die dem Volk die fremde Lebensweise verkaufen wollten. Doch die Menschen hatten dazu gelernt. Sie verkauften nun ihre eigene Lebensweise den Fremden. Sehr erfolgreich. Und völlig kostenlos.

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.